Redebeitrag von Utopie und Praxis Leipzig auf unserer Demonstration vom 9.12.2023

Den Anstoß, diesen Redebeitrag zu schreiben, gab ein Video auf Social Media, welches sich kurze Zeit später bereits als Falschinformation entpuppte. Ihr habt die Videos vielleicht auch in eure Timeline gespült bekommen. Bewohner des Gazastreifens, die angeblich in dessen Süden zu dutzenden auf die Straße gehen, weiße Fahnen und Laken wedeln und auf arabisch „das Volk will den Fall der Hamas“ rufen. So erfreulich solche Proteste in der aktuellen Situation wären – die Videos sind nicht nach dem 7. Oktober, sondern Ende Juli diesen Jahres im Norden des Gazastreifens entstanden. Dennoch ist auch das ein guter Aufhänger für diesen Redebeitrag, denn die Proteste gegen die Hamas, die es im Sommer auf den Straßen Gazas gab, lohnen sich einer näheren Betrachtung. Und zeigen außerdem, wie egal antiimperialistischen Linken ihr „unterdrücktes Volk“ ist, wenn nicht der jüdische Stadt, sondern die regierenden Islamisten als „Unterdrücker“ im Fokus stehen. Denn bemerkenswerterweise haben eben jene linken Gruppen dieser Stadt, die aktuell keine Woche vergehen lassen können, ohne eine Demo oder Veranstaltung in Solidarität mit „dem palästinensischen Volk“ und dessen „Befreiungskampf“ zu bewerben, anscheinend nichts von den Protesten mitbekommen oder sich dazu entschieden, sie nicht zu thematisieren. Keine Solidaritätskundgebung, kein Text, nicht mal ein lausiger Instagram-Beitrag. Dabei ging es den Protesten um bessere Lebensbedingungen in Gaza. Doch was waren die Auslöser der Proteste, was genau ihre Forderungen, welche Akteure stehen dahinter und wie reagierte die Hamas? Und will die Mehrheit der Menschen in Gaza eigentlich Frieden mit Israel? 
Ausgelöst wurden die Proteste durch den Tod eines Bewohners von Chan Yunis, der zweitgrößten Stadt des Gazastreifens, die sich in dessen Süden befindet. Shadi Abu Quta starb am 27. Juli 2023, weil lokale Behörden sein Haus abreißen ließen, während er sich noch darin befand und obwohl er beweisen konnte, das ihm das Haus gehört. Der Fall bekam auf Social Media schnell viel Aufmerksamkeit und es brachen erste, spontane Proteste aus. Für den 30. Juli dann riefen Aktivist*innen, ebenfalls über soziale Netzwerke, einen „Day of Rage“ aus, manche Accounts sprachen hochtrabend gar von einer „Revolution“. Die blieb aus, es fanden sich aber tausende Menschen zu mehreren Demonstrationszügen auf der Straße ein. Wie viele genau ist dabei mangels unabhängig berichtender Medien aus Gaza nicht zu beziffern. Es wurden Sprechchöre gegen die Hamas gerufen, palästinensische Flaggen gewehnt und in einem Fall auch eine Flagge der Hamas verbrannt. Hier intervenierten Sicherheitskräfte der Hamas und lösten den Protest auf, außerdem zerstörten Sicherheitskräfte Handys filmender Demonstranten und Journalisten und es brachen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Anhängern der Hamas aus. Die Hamas stürmte außerdem ein Krankenhaus in Rafah und verschleppte drei Oppositionelle, die dort behandelt wurden, nachdem sie bei den Protesten verletzt worden waren. Der 30. Juli sollte bereits der Höhepunkt der Proteste sein. Auch am 4. August kam es erneut zu Gaza-weiten Protesten, allerdings bereits von deutlich weniger Personen. Als ein paar Tage später wieder zu Protesten aufgerufen wurde, waren die Sicherheitskräfte der Hamas vorbereitet – an allen Orten, die als Startpunkte von Protestmärschen angekündigt gewesen waren, waren zivile und militärische Sicherheitskräfte und Polizei sehr präsent – schon Personengruppen ab zwei Personen wurde untersagt, an diesen Orten stehen zu bleiben, wie ein Aktivist der Internetzeitung The Times of Israel berichtete. Zumindest auf Social Media aber behielt die Bewegung in den darauffolgenden Tagen ein gewisses Momentum. 
Zentrales Thema der Proteste war dabei der akute Strommangel in Gaza. Die Bevölkerung leidete unter den ständigen Blackouts – die Hamas machte die schlechte Infrastruktur in Gaza, an der die israelische Blockade des Küstenstreifens schuld sei, für die Probleme bei der Stromversorgung verantwortlich. Aktivist*innen beklagen jedoch schon länger, dass das einzige Kraftwerk in Gaza, das zur Erzeugung von Strom eingesetzt wird, nie unter voller Kapazität produzierte – nur drei von vier Generatoren wurden genutzt. Ein lokaler Journalist eines Radiosenders rief daraufhin ein paar Wochen vor den Protesten die Kampagne #FourthGenerator ins Leben und äußerte Zweifel daran, dass die Hamas das Geld, dass sie von der Bevölkerung des Gazastreifens für die Stromerzeugung einsammelt, wirklich effektiv dafür einsetze, um die Menschen mit Elektrizität zu versorgen. Auch weitere Aktivist*innen und der Vorsitzende der Energiebehörde der Palästinenstischen Autonomiebehörde in Ramallah haben vorgerechnet, dass die Hamas einen Großteil des Geldes für andere Zwecke verwendet, da nur ein Bruchteil davon überhaupt nötig sei, um das Kraftwerk zu betreiben. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Angaben nicht. Zuletzt hatte es 2019 Proteste gegen die Hamas im Gazastreifen gegeben, als die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah gefordert hatte, dass Israel weniger Elektrizität in den Gazastreifen liefern solle, um die Hamas zu schwächen. Es zeigt sich also – Proteste gegen die Hamas stehen natürlich auch im Zusammenhang um den Konflikt um den Führungs- und Repräsentationsanspruch zwischen der Fatah-geführten Palästinensischer Autonomiebehörde und der Hamas. Die Hamas bezichtete die Protestierenden in diesem Sommer folgerichtig Agenten des Mossad oder der Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde zu sein. Inwieweit die Proteste sich positiv auf die Fatah oder auf andere, Palästinenserorganisationen bezogen ist dabei schwer zu sagen, da sie so diffus und dezentral und von kurzer Dauer waren. Einzig zwei kleinere, der PLO angehörende Parteien, die Palestinian Democratic Union und die Palestinian People’s Party, kritisierten die Hamas offiziell für ihr vorgehen gegen die Proteste – beides Parteien, die sich für eine Zwei-Staaten-Lösung in den Grenzen von 1967 einsetzen – beides Parteien von überschaubarer Relevanz.
Der im Exil in Kairo lebende Aktivist und Gründer des demokratischen Gaza Youth Committee Ramin Aman meinte im Sommer zwar, dass sich Menschen aus Gaza online nun offener gegen die Hamas positionieren als noch vor 5-10 Jahren. Und ganz grundsätzlich sollte es uns als radikale Linke nicht egal sein, wenn Menschen gegen eine Islamistische Terrorgruppe und für Grundversorgung auf die Straße gehen. Statt dem antiimperialistischen Gerede vom „Volkskampf“ oder „nationaler Befreiung“ auf den Leim zu gehen und damit genau das Gegenteil vom dem zu tun, was linksradikale Politik unserer Ansicht nach eigentlich sollte, nämlich das Individuum vom Zwangskollektiv des „Volkes“ zu befreien, lohnt es sich, Vorgänge wie die beschriebenen Proteste und deren Unterbindung durch die Hamas zu thematisieren. Gleichzeitig sollte man sich aber natürlich aber keine Illusionen machen: weder war die Herrschaft der Hamas durch die Proteste in diesem Sommer irgendwie gefährdet – die proklamierte Revolution blieb natürlich aus – noch ist jeder Gegner der Hamas ein Freund Israels. Und auch Positionen wie die Rami Amans, der Israel für das militärische Vorgehen gegen die Hamas nach dem 7. Oktober kritisierte, weil durch den Krieg Proteste gegen die Hamas verunmöglicht würden, zeigen, wie schnell auch vermeintlich progressive Akteurinnen und Akteure, die sich für die Belange der Menschen in Gaza einsetzen, an einen Punkt gelangen, an dem Israel die Schuld zugewiesen wird. Dass sich Israel nach dem 7. Oktober militärisch verteidigt, bleibt legitim. 
Und auch repräsentative Umfragen zur politischen Einstellung der Menschen in Gaza zeichnen eher kein hoffnungsvolles Bild. Laut einer Umfrage des US-Thinktanks Washington Institute for Near East Policy vom Juli diesen Jahres sehen 57% der Befragten die Hamas sehr oder eher positiv, 40% sehen sie eher oder sehr negativ. Noch mehr Zuspruch erhielt der Islamische Dschihad. Laut selbiger Umfrage fordern aber 50% der befragten in Gaza, die Hamas solle aufhören, die Zerstörung Israels zu proklamieren und stattdessen eine Zweistaatenlösung in den Grenzen von 1967 akzeptieren. Gewiss sind solche Umfragen mit Vorsicht zu genießen und zeichnen eher ein diffuses Bild, von einer mehrheitlichen Ablehnung der Hamas kann aber nicht gesprochen werden. Besonders die zwischen dem 31. Oktober und 7. November von Arab World for Research and Development durchgeführte repräsentative Befragung zeigt, wie groß die Unterstützung für den am 7. Oktober gestarteten Terrorangriff auf Israel anscheinend ist. Unter den Befragten, die zu etwa 60% in der West Bank und zu 40% im Gazastreifen leben, gaben 59% an, den Angriff voll zu unterstützen, 16% teilweise, lediglich 13% stellten sich gegen den Angriff. Unter den Befragten in der West Bank war die Unterstützung des Angriffs mit 68% dabei deutlich höher als in Gaza mit 47%. Auch die Zustimmung zu einer Zwei-Staaten-Lösung nehme merklich ab.
Es bleibt zu hoffen, dass es Israel gelingt, die Hamas militärisch zu zerschlagen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit danach irgendwie progressive Kräfte in Gaza eine Rolle spielen und ob die Protestbewegung des Sommers erneut aufflammt. Unsere Solidarität gilt den Aktivist*innen, die sich in Gaza oder im Exil ernsthaft gegen die Hamas, gegen den politischen Islam und für Frieden mit Israel einsetzen. Ebenso gilt unsere Solidarität dem jüdischen Staat, seiner Existenz, seinem Recht auf Selbstverteidigung und allen Jüdinnen und Juden weltweit. 
Antifa heißt Solidarität mit Israel! Free Gaza from Hamas!